Gabriel Brönnimanns Blog

Wahnfried

The Cornerstone of any nutritious Brexit: All Day Breakfast und Hot Dogs, Cornwall, 2015.
The Cornerstone of any nutritious Brexit: All Day Breakfast und Hot Dogs (2015).

Ein Gastbeitrag von Ommas Murks*

Das ist ein schlechter Tag für Grossbritannien, für Europa – und für die Schweiz. Wir erleben Epochales. Nach dem Fall der Berliner Mauer, die auch den Fall der kommunistischen Regimes in Osteuropa besiegelte, hat sich in Europa kaum Bedeutenderes ereignet. Am 24. Juni 2016, dem Tag, nachdem sich die Briten mit einer knappen Mehrheit gegen die EU gewandt haben, ist Europa zwar noch der gleiche Kontinent wie zuvor – doch befinden wir uns plötzlich in einem Albtraum, aus dem kein Erwachen möglich scheint. Die komplette Disziplinlosigkeit, mit welcher die Briten diesen leichtfertigen Trennungsschritt vorgenommen haben, verdient höchstens Verachtung: Mehr als dreissig Millionen Bürgerinnen und Bürger haben, da die Zukunft ihres Landes übereilt und gewissenlos in die Feuerschale des Schicksals gelegt worden war, abgestimmt. Als demokratischer Realist war ich skeptisch, als ich im Fernsehen die Briten sah, wie sie sich in Scharen zu den Stimmlokalen begaben. Wenn die EU scheitern sollte, und dieses Szenario darf man erstmals ernsthaft in Betracht ziehen, auch wenn es keinerlei Anlass gibt, in totale Hysterie zu verfallen, dann scheitert das womöglich wichtigste und entwicklungsfähigste demokratische Projekt der Welt. Das haben uns die Briten eingebrockt.

In gewissem Sinne gleichen sich die beiden Einschnitte, 1989 und 2016: Es geht um die Demokratie. Doch das zweite Datum gefährdet den Siegeszug der Demokratie. Denn irren wir uns nicht: Bei der EU handelt es sich vermutlich um einen der meistunterschätzten Versuche der Demokratisierung seit dem alten Griechenland; doch längst ist in Brüssel auch eine grösser werdende Gang von demokratisch gewählten Refeudalisierern aller Länder am Werk, die sich als Kommissare und Funktionäre daran machen, unser Leben, unsere Wirtschaft und unsere Politik nach ihren Interessen umzuformen, auch mit Schützenhilfe aus der Schweiz, dem Nie-Mitglied. Hätten diese EU-Gegner sich Zöpfe wachsen lassen und gepuderte Perücken aufgesetzt: Man wäre nicht überrascht. Aufgeklärte Despoten hingegen verbergen ihre wahren Herrschaftsabsichten.

Gefährlich ist es, weil dieser Vorgang unsichtbar und langsam abläuft, ausserdem vom Lärm despotenfreundlicher Medien und Oligarchen unterstützt, so, dass die Bürger in Europa sich der Vorgänge kaum bewusst werden. Gefährlich, weil so wenige so vieles wieder lautstark in Frage stellen und sabotieren, wo immer es nur geht: Eine beschlossene Währungsunion mit offenen Grenzen. Gerüchte wurden verbreitet, Weltfremde hätten einen neuen Staat gegründet, die Europäische Union, die nicht zufällig ähnlich wie die United States of America hiesse. Böse Zungen behaupteten gar, Bürger hätten nie über diesen neuen Staat bestimmen dürfen, was zwar ebenso wie die Idee eines Staates EU so nicht zutrifft, aber in schwierigen Zeiten gut ankommt. Den Bürgern habe man eine Hymne und eine Flagge gegeben. Manch nordisches Märchen klingt glaubwürdiger und netter.

Auf dem Boden

Eliten, das zeigt nicht nur die Geschichte, sind zur Verwirklichung gesellschaftlicher Visionen und Träume meist unverzichtbar. Demokratie, in Griechenland als Bewegung der männlichen Elite entstanden, ist in ihrer modernen Form Grundrecht jeder Bürgerin und jeden Bürgers, Gewaltentrennung inklusive. Vor inhaltslosen Rechthabereien schützt Debatte und Bildung, vor Rechtsbrüchen Transparenz und Justiz. Wem in England noch zu trauen ist, ist allerdings nicht einfach festzustellen – viele Bürger misstrauten einem Teil ihrer Eliten zu Recht. Die Tories selbst, allen voran die Sandkasten-Feinde Cameron und Johnson, waren in der Brexit-Frage gespalten, einer Frage, die sie aus egoistischen Gründen überhaupt zur Abstimmung gebracht hatten, und gegen die sich manche aus derselben Partei aus egoistischen Gründen eingesetzt haben. «Das war die grösste Ohrfeige, die das britische Establishment je erhalten hat», sagte Andrew Neil, ein erfahrener Journalist der britischen BBC, am Morgen danach. Man hatte vorgegeben, leichtes Spiel zu haben: 55 Prozent wollten bleiben, bloss 45 dürften den Brexit unterstützen, meinten einige Regierende vor der Wahl. Gute Miene zum verlorenen Spiel.

Aus welchem Weichholz sie geschnitzt sind, bewies David Cameron, der desaströse Premierminister, am Freitag, als er ankündigte, im Oktober zurücktreten zu wollen. Wo ist sein Sinn für Verantwortung? Er hat das Referendum einberufen, um die Wahl zu gewinnen. Jetzt hat er alles verloren. Er sollte nun sofort seinen Platz räumen, umgehend Neuwahlen anordnen.

Cameron gehört zwar zur selben Generation wie Obama und Merkel, aber da hören die Gemeinsamkeiten auf: viel reden, wenig handeln, nie Verantwortung tragen. Ein Angsthase und Schönredner an der Macht, der den Karren immer tiefer in den Dreck fuhr, im Gegensatz zu seinen Amtskollegen ennet dem Teich und auf europäischem Festland. Einen ähnlich zwiespältigen Eindruck hat Cameron bekanntlich längst auch beim deutschen Aussenminister Frank-Walter Steinmeier hinterlassen (so viel ich weiss ein ­Calvinist, keine Ahnung, warum ich das hier erwähne) – er klagte über den Versager und den «traurigen Tag für Europa». Dass er damit nicht im Unrecht war, bewies gleich der junge österreichische Aussenminister Sebastian Kurz, der sogleich Reformen forderte, die zeigten, dass eben doch eine Art von Anti-Staatsmann in ihm steckt.

Camerons Schuld

Wenn aber jemand für den Brexit nichts kann, dann die von zynischen Verachtern von Einigkeit und Recht und Freiheit oft beschuldigte deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, die vielleicht grösste Politikerin unserer Zeit. Als es darum ging, das vertrackte Verhältnis zwischen Grossbritannien und der EU neu zu verhandeln, empfing sie Cameron eigens in Berlin. Der Glücklose war gekommen, um die Deutschen auf seine Seite zu bringen, noch mehr Extrawürste für England auszuhandeln. Zu Zugeständnissen, die er erreichen wollte, gehörten auch Mittel gegen den freien Personenverkehr: Obwohl die Briten im eigenen Land und in der EU netto von all dem profitierten, ächzten die Briten unter Camerons Regierung unter mehr Armut und Ungleichheit. Die wirtschaftliche Erholung kam wegen seiner Politik nur den Obersten zu gute. Schuldige mussten her, da kamen die Einwanderer gerade recht. Merkel tat das einzig Richtige, lehnte diese Forderung ab – und Cameron, längst nur PR-Politiker, erlitt eine PR-Niederlage mehr.

Merkel hatte weder naiv gehandelt, noch den Ernst der Lage verkannt: Die Personenfreizügigkeit ist einer der Grundpfeiler der EU, fragen Sie die 750‘000 britischen Auswanderer in Spanien. Über die Personenfreizügigkeit verhandeln zu wollen als fünftgrösste Volkswirtschaft der Welt, die ihre wirtschaftliche Macht zur Hälfte Europa verdankt, zeugt höchstens von Camerons Unfähigkeit und Arroganz. Oder vielleicht war es pure Verzweiflung – jedenfalls Eigenschaften, wie man sie nur bei Politikern beobachten kann, die sich längst ins Nirwana der Verantwortungslosigkeit verabschiedet haben. Was ficht mich die Demokratie an?, muss Cameron gemeint haben – oder womöglich gar: was unterscheidet Grossbritannien von Griechenland?

Je nachdem, wie es weitergeht, weniger, als ihm lieb sein kann. Nicht, dass ihn das auf seinem Landsitz gross beschäftigen wird. Das Wähnen hat ein Ende; Cameron wird seinen Ruhestand in Frieden geniessen. Für Grossbritannien aber, bei dem nun die Begriffe Gross und Britannien gleichsam auf dem Spiel stehen, hat die Götterdämmerung begonnen.

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*Ommas Murks, ein etwas verschrobener Zeitgenosse, hat mich inständig um Veröffentlichung dieses Textes gebeten. Er habe bemerkt, dass seine privat festgehaltenen Ausführungen (hier unverändert wiedergegeben in seiner ihm eigenen, etwas pathetischen und schwurbligen Schreibweise, Anm. d. Red.) zum Brexit «von mächtigen Zynikern auf mephistophelische Weise ins Gegenteil verkehrt und unter falschem Namen publiziert» worden waren. Ich bin seinem Wunsch gerne nachgekommen.

Ein bisschen Schnee, und alles steht still

Das ist natürlich leicht übertrieben. Aber wenn man bedenkt, dass in Atlanta läppische 5 cm Schnee gereicht haben, um die ganze Stadt komplett lahmzulegen, und dass es in vielen Gebieten der USA die Schulen geschlossen bleiben, einfach nur, weil es schneit – egal, wie viel davon liegen bleibt, wie diese Karte zeigt – dann kann man sich als Schweizer vielleicht etwa vorstellen, was seit rund einem Monat hier in New York los ist. Denn: Es ist Winter, es ist kalt, und hin und wieder schneit es.

Hier führt das gleich zu grösseren Verkehrsproblemen, bei den grossen Zufahrtsstrassen wie auch im Quartier. Winterpneus haben nur wenige – das Herumgerutsche mancher Autos ist etwa so komisch wie es gefährlich ist. Was wohl auch der Grund dafür ist, dass viele Schulen geschlossen bleiben. (Hinterher schimpft dann die ganze Upper East Side, weil man bei ihr etwas später mit den Schnee-Räumungsarbeiten angefangen hat als anderswo – typische New-Yorker-Rangeleien halt. Ich verschone Euch damit).

Schöne Nebenwirkung bei uns im Quartier: Weniger Leute, weniger Verkehr, mehr Ruhe. Wir sind froh, dass das Polarschwein, so haben wir die superkalte Periode am liebsten genannt, uns jetzt hoffentlich verschont. Das Polarschwein hatte keinerlei Respekt, machte auch vor mehreren textilen Schichten nicht halt, und saute auch mit Wonne durch sämtliche Ritzen in den Wänden unserer Wohnung. Allerdings: Für den gut eingepackten Spaziergänger mit Kamera gab’s eine schöne Motive im praktisch menschenleeren Quartier. Hier sind einige davon.

Williamsburg Bridge

Ob mit der Subway, mit dem Velo oder zu Fuss (mein Lieblingsspaziergang): Die Williamsburg Bridge, die Manhattan mit Brooklyn verbindet, überquere ich mehrmals pro Woche. Sie beginnt vier Blocks hinter unserem Haus und ist über zwei Kilometer lang (bei ihrer Eröffnung im Dezember 1903 war sie die längste Hängebrücke der Welt).

Fotogen ist sie auch. Wenn ich die Kamera dabeihabe, kann ich meistens nicht anders, als mindestens einmal abzudrücken. Hier ein paar meiner bisherigen Lieblingsfotos.

Banksy in New York: Crazy Horse

Apropos Open-Air-Museum: Derzeit ist Banksy in New York, und er ist – unter dem Titel “Better Out Than In” – äusserst aktiv. Jeden Tag, respektive jede Nacht, ein neues Werk. Heute tauchte ein düsteres, apokalyptisch anmutendes Werk mit drei Pferden in Soldaten-Montur auf einen Van und ein Auto (mit entsetzten Menschen inmitten von Fadenkreuzen) in einem abgesperrten Hof auf. Ich bin mir das anschauen gegangen, es ist an der 159 Ludlow Street in der Lower East Side.

Banksy: Crazy Horse

Zum Werk gehört auch eine Audio-Botschaft: Entweder man ruft auf eine (neben dem Werk aufgemalte) Gratisnummer an, oder man hört sich das auf Banksys New-York-Seite an (dort gibt’s auch ein schöneres Foto). Der Audio-Track ist gemäss Village Voice ein Zusammenschnitt aus der berühmten Video-Aufnahme vom Irak-Krieg, die 2010 von Wikileaks veröffentlicht wurde. Eine der Einheiten heisst “Crazy Horse”. Die letzten Sätze von Banksys Zusammenschnitt: “Well it’s their fault for bringing their kids into a battle.” – “That’s right”. Ein typischer Banksy: Fadengrad, simpel, effektiv.

Watching Banksy's Crazy HorseUnd schön anzusehen: Ich war natürlich bei weitem nicht der einzige, der sich das Werk anschauen ging. Banksy ist ein Publikumsmagnet, die Leute kamen in Scharen.

Die Village Voice hat übrigens ein exklusives Interview mit Banksy zu seinem New-York-Monat.